Keine Experimente, so lautete allzu lange die Maxime der Ingolstädter Auto Union, die vor 60 Jahren mit Vollgas fast in den Untergang fuhr – und das mitten im bundesdeutschen Wirtschaftswunder. Die Duftfahne und der Reng-deng-deng-Sound der DKW-Zweitakt-Modelle waren aus der Zeit gefallen, daran konnte auch der 1963 vorgestellte Frontantriebstyp Auto Union DKW F102 nichts mehr ändern. Trotz des eleganten Designs im Bauhaus-Stil war das Mittelklassemodell ein ungeliebter, weil herzkranker Held, und so musste die Marke mit den vier Ringen vorübergehend sogar den Käfer für die Konzernmutter VW produzieren.
Doch dann zog VW-Chef Heinrich Nordhoff die Notbremse, beerdigte die Zweitakt-Marke DKW und setzte alles auf Anfang – mit einem Mercedes-Motor und dem Revival der 1940 eingestellten Premiummarke Audi. „Mercedes-Benz. VW. Auto Union. Allein hätte keiner den Audi so gemacht, wie er ist“, erklärte 1965 eine Werbekampagne die Viertakt-Limousine Audi (F103), hinter der sich eigentlich nur ein Facelift des DKW F102 verbarg.
Audi: Was für ein Facelift
Aber was für ein Facelift: Der legendäre Audi-Chefkonstrukteur Ludwig Kraus installierte hinter dem Chrom-Kühlergrill im Zeichen der Ringe einen hochverdichtenden 1,7-Liter-Vierzylinder-Viertaktmotor, der ursprünglich bei Mercedes entwickelt worden war. Auch im Interieur zeigte der Audi eine Gediegenheit, die ihm den Ruf eines Volks-Mercedes einbrachte. Aus diesem ersten Audi – anfangs ohne Typenbezeichnung – entstand eine Modellfamilie, die vom Audi 60 bis zum Super 90 reichte und die sich bis 1972 in gut 420.000 Einheiten verkaufte: DKW starb, damit Audi zu einem Maßstab in der Mittelklasse avancierte.
60 Jahre Audi aus Ingolstadt (Audi F103)

Ob schneller Porsche 911 Targa, BMW CS Coupé, Opel GT Concept oder luxuriöser Mercedes 300 SE (W 108) und Glas V8 – an deutschen Premierenstars mangelte es auf der IAA 1965 nicht. Als besonderer Publikumsmagnet erwies sich jedoch der Auto Union "Audi", zu dessen Premiere sogar Bundespräsident Heinrich Lübke mit großem Gefolge erschien.
Der letzte Audi vom Typ 920 war im April 1940 im Horch-Werk im sächsischen Zwickau vom Band gelaufen. Nun versuchte die bayerische Auto Union, die einst für Avantgarde und Premiumschick stehende Marke wiederzubeleben – und damit einen Ausweg aus der Zweitakt-Sackgasse zu finden, in die die DKW-Flotte gefahren war. Mit dem ersten Nachkriegs-Audi wollten sich die Ingolstädter neu erfinden, so wie es BMW zuvor mit der "Neuen Klasse" gelungen war und wie es damals ein dritter bayerischer Autobauer – Glas aus Dingolfing – in der Mittelklasse mit dem 1700 versuchte.
Die Industrie hatte 1965 zum wirtschaftlichen "Boom-Jahr" ausgerufen, noch ahnte niemand, dass es die letzte Blüte vor der ersten Rezession in der Geschichte der Bundesrepublik sein würde, die etwa die Automarke Glas nicht überlebte. Allein Audi brachte alle Anlagen für eine Erfolgsstory der besonderen Art mit. Dafür sorgte der VW-Konzern, der 1965 die Führung bei der Auto Union übernahm, nachdem diese sechs Jahre lang ein Tochterunternehmen der Daimler-Benz AG gewesen war. Bereits bei Daimler-Benz war für das Zweitakt-Modell DKW F102 aus einem eingestellten Bundeswehrprojekt ein 1,7-Liter-Vierzylinder-Viertaktmotor mit 53 kW/72 PS entwickelt worden.
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Unter dem geheimnisvollen Namen „Mitteldruck-Motor“ – Audi verwies auf einen mittleren Verbrennungsdruck zwischen Benziner und Diesel – erregte das für einen Benziner hoch verdichtete und mit 8,4 Litern Normverbrauch vergleichsweise sparsame Aggregat vor 60 Jahren fast ebenso viel Aufsehen wie der revolutionäre Wankelmotor des NSU Spider.
Neugier auf den ersten Audi aus der Donaustadt weckte auch eine kuriose Anzeigenkampagne, die nur für Lateiner verständlich war: "Compressorius medii ordinis motor quaternis ictibus vehiculum propellit" warb der Slogan für den kreativen Viertakt-Mitteldruckmotor in den Audi Limousinen und Kombis, die kostspieliger waren als konventionelle Opel Rekord oder Ford Taunus 17 M.
Eine technische Messlatte zu lancieren, die dem Massengeschmack gefällt, diese Rechnung ging für die Audi-Marketingstrategen auf. Während der ebenfalls neue und frontangetriebene Renault 16 hierzulande mit seinem revolutionären fünftürigen Fließheck polarisierte, erreichten die Limousinen und Kombis mit den vier Ringen statusbewusste Aufsteiger, die zwar technische Finessen und Avantgarde goutierten, aber sonst eher von der soliden Noblesse eines weit teureren Mercedes 200 träumten.
Als Audi die Baureihe F103 im Jahr 1966 mit den Typen Audi 80 und Super 90 nach oben ergänzte – die Typenbezeichnung indizierte die Motorleistung – konnten es die vier Ringe auch mit Sportlimousinen wie BMW 1600-2 und 1800 aufnehmen. Prominente TV-Stars wie der Blaue-Bock-Wirt Heinz Schenk oder Hans Sachs vom "Was bin ich?"-Rateteam zeigten sich als zufriedene Fahrer des Super 90 (dessen Typbezeichnung an den Porsche Super 90 erinnerte), und sogar Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller überzeugte sich von den Qualitäten des Audi, der seinen Hersteller in die finanzielle Gewinnzone brachte.
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Kleine Schwächen wie vorzeitige Korrosionsschäden an den Kotflügeln schadeten dem Image des ansonsten geradezu penibel zusammengebauten Audi nicht. Polizeibehörden und Rettungsdienste bestellten den Audi 80 Variant, das Taxigewerbe orderte die Viertürer und in Kinderzimmern zählten Audi-Typen zu den beliebten Miniaturautos – die frontangetriebenen Viertakttypen gehörten nach nur wenigen Jahren zur Alltagskultur.
Ab 1968 war die Mittelklasse im Zeichen von fünf Ringen unterwegs, denn Audi unterstützte ebenso wie BMW die Ausrichtung der Olympischen Spiele 1972 in München. Außerdem debütierte der populärste Typ der Baureihe F103: Das Basismodell Audi 60 mit 40 kW/55 PS leistendem 1,5-Liter-Motor gewann vor allem Käfer-Aufsteiger und galt als typisches Beamtenfahrzeug, so verbreitet war der Ringträger vor Schulen, Universitäten und Behörden. Im Vergleich zum frontangetriebenen Audi 60 wirkten VW 1600, Ford 15 M oder Opel Olympia altbacken und bieder.
Kleine technische Updates
1968 ersetzte der Audi 75 die frühen Typen Audi (72) und Audi 80 – und optische Auffrischungen genügten, um die Mittelklasse bis zum Debüt des Audi 80 (B1) im Jahr 1972 begehrenswert zu halten. Insgesamt 417.000 Einheiten konnte Audi vom F103 absetzen, mehr als achtmal so viele wie vom Zweitakt-Vorgänger F102. Gewiss, das 1968 präsentierte Flaggschiffmodell Audi 100 verkaufte sich sogar in 880.000 Exemplaren. Aber ohne den Erfolg des DKW-Nachfolgers F103 wäre aus dem Autobauer an der Donau vielleicht nur eine verlängerte Wolfsburger Werkbank geworden und kein Herausforderer der Marke mit dem Stuttgarter Stern. Die Ingolstädter haben das bis heute nicht vergessen: Wann immer einer der 1965er Auto Union „Audi“ aus der Sammlung von Audi Tradition eine Ausfahrt unternimmt, sind dem Oldtimer der Applaus und die Daumen-hoch-Zeichen der Passanten sicher.